
Legenden und Geschichte
Die Angaben zur Entwicklungsgeschichte des Taijiquan sind teils sehr widersprüchlich. Die meisten der heute Taijiquan Praktizierenden berufen sich auf Vorläufer oder Wurzeln aus dem 15. Jahrhundert oder früher. Des Weiteren sollen die Wurzeln oder Vorläufer nur innerhalb eines engen Personenkreises weitergegeben worden sein, etwa in einem Kloster oder in einer Familie; damit wird begründet, dass das Taijiquan sich der offiziellen Geschichtsschreibung entzieht.
Zhang Sanfeng, die Wudang-Berge und Verbindungen zum Daoismus
Innerhalb der chinesischen Kampfkünste wird Taijiquan zu den inneren Kampfkünsten (chin. Neijia) gerechnet und in Verbindung mit Prinzipien des Daoismus gebracht. Als legendärer Begründer der inneren Kampfkünste und damit auch des Taijiquan wird üblicherweise der daoistische Mönch und Unsterbliche Zhang Sanfeng betrachtet, der zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert gelebt haben soll, dessen historische Existenz allerdings nicht belegt ist. Der Legende nach entdeckte er die Prinzipien der inneren Kampfkünste in den Wudang-Bergen, nachdem er den Kampf zwischen einer Schlange und einem weißen Kranich beobachtet hatte.
Der historischen Forschung sind aus der Zeit, in der die Legende über Zhang Sanfeng zum ersten Mal aufgeschrieben wurde, keine Dokumente bekannt, die eine Verbindung zwischen Zhang Sanfeng und den Kampfkünsten nahelegen oder ihn gar als Erfinder einer eigenen Kampfkunst benennen. Manche der Texte der sogenannten „Klassiker“ des Taijiquan legen eine solche Verbindung nahe. Unsicher ist jedoch, wann diese Texte entstanden sind und ob die Verbindungen nicht erst später hinzugefügt wurden. Dies könnte geschehen sein, um einerseits den Texten mehr Gewicht zu geben, andererseits, um der konfuzianische Tugend der Bescheidenheit zu genügen, oder sogar nur, um die Verbindungen zu den Wudang-Bergen zu bekräftigen. Sehr selten berufen sich Anhänger des Taijiquan auf noch ältere Wurzeln des Taijiquan, die bis auf die Liang-Dynastie (502–557) zurückgehen sollen.
Obwohl die Aussage historisch umstritten ist, berufen sich die heute lebenden daoistischen Mönche und Kampfkünstler der Wudang-Berge darauf, dass die inneren Kampfkünste (und damit auch das Taijiquan) seit Zhang Sanfeng in den daoistischen Klöstern der Wudang-Berge weitergegeben, entwickelt und tradiert wurden. Bis zur jüngeren Zeit wären sie jedoch nur selten an Außenstehende weitergegeben worden. So soll im 17. Jahrhundert der reisende Wudang-Mönch Wang Zongyue (chin. 王宗岳) seine Kampfkunst im Dorf Chenjiagou gelehrt haben, weil er darum gebeten wurde, und so den Anstoß zur Gründung des Chen-Stils (siehe unten) gegeben haben.
Der in den Wudang-Bergen als Teil der inneren Kampfkünste praktizierte und mittlerweile auch einer breiteren Öffentlichkeit gelehrte Stil des Taijiquan unterscheidet sich deutlich von diesen Stilen und wird bisweilen als Wudang-Stil des Taijiquan bezeichnet, der nicht mit dem Mitte des 20. Jahrhunderts von Cheng Tin-hung in Hongkong entwickelten Wudang Tai Chi Chuan zu verwechseln ist.
Entstehung der 5 Familienstile
Verlässlich lässt sich die Geschichte des Taijiquan bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen. Damals schrieb General Qi Jiguang (chin. 戚繼光 / 戚继光 Qī Jìguāng, 1528−1588) das Buch Jixiao Xinshu (chin. 紀效新書). In diesem Buch beschreibt er einen von ihm neu entwickelten Kampfkunststil, dessen Techniken er aus den seiner Meinung nach besten Kampfkünsten zusammenstellte. Obwohl darin kein Taijiquan erwähnt wurde, beschreibt das Buch dennoch zahlreiche Techniken, die heute noch im Chen-Stil des Taijiquan zu finden sind. Deswegen sehen einige Historiker im Taijiquan einen direkten Nachfolger von Qi Juguangs Stil.
Mitte des 17. Jahrhunderts tauchte im Dorf Chenjiagou (chin. 陳家溝) ein Boxstil auf, der heute als der Chen-Stil des Taijiquan bekannt ist. Der Überlieferung der Familie Chen zufolge wurde der Stil von General Chen Wangting (chin. 陈王庭, 1600−1680) aus seinen bestehenden Kenntnissen der Kampfkünste entwickelt. Wie weit Chen seinen Stil auf dem Stil von Qi Juguang aufbaute, und ob der Wudang-Mönch Wang Zongyue (chin. 王宗岳) eine Rolle bei der Schaffung des Stils gespielt hat, beziehungsweise ob es ihn überhaupt gegeben hat, ist historisch nicht klar belegt.
Fest steht, dass der Stil seit dieser Zeit zunächst als Familiengeheimnis der Familie Chen weiterentwickelt und tradiert wurde. Das Taijiquan der Chen-Familie wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals an einen Außenstehenden weitergegeben. Chen Changxing (chin. 陳長興 Chén Chángxīng, 1771–1853) akzeptierte Yang Luchan (chin. 楊露禪 / 杨露禅, W.-G. Yang Lu-ch’an, 1799–1872) als Schüler im inneren Kreis der Familie. Yang Luchan entwickelte das Gelernte weiter und wurde zum Begründer des Yang-Stils. Etwas später unterrichtete Chen Qingping (chin. 陳清苹, W.-G. Ch’en Ch’ing-p’ing, 1795–1868) ebenfalls außerhalb der Familie Wu Yuxiang (chin. 武禹襄, 1812–1880), den Begründer des Wu/Hao-Stils.
So wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlage für die sogenannten fünf Familienstile gelegt, die jeweils innerhalb einer Familie weiterentwickelt und gepflegt wurden. Der Meister gab seinen Stil vollständig nur an seine Söhne weiter, so dass das Oberhaupt eines Taijiquan-Stiles gleichzeitig das Familienoberhaupt war. Zwischen den verschiedenen Familien gab es besonders zur Gründungszeit intensiven Austausch. Die fünf Familienstile sind:
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Chen-Stil (chin. 陳氏) im „kleinen Rahmen“ (chin. 小架 Xiaojia) oder im „großen Rahmen“ (Dajia) (Mitte 17. Jahrhundert). Seit etwa 1976 wird im großen Rahmen zusätzlich zwischen dem „alten Rahmen“ (chin. 老架 Dalaojia) und dem „neuen Rahmen“ (chin. 新架 xinjia) unterschieden.
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Yang-Stil (chin. 楊氏 yángshì) nach Yang Luchan; im „großen Rahmen“ nach Yang Chengfu (chin. 楊澄甫 / 杨澄甫 Yáng Chéngfǔ, W.-G. Yang Ch’eng-fu, 1883–1936) oder im „kleinen Rahmen“ nach Yang Banhou (chin. 楊班侯 / 杨班侯 Yáng Bānhóu, W.-G. Yang Pan-hou) 1837–1892)
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Wu/Hao-Stil (chin. 武(/郝)氏 wǔ(/hǎo)shì) nach Wu Yuxiang (chin. 武禹襄, W.-G. Wu Yu-hsiang, 1812–1880)
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Wu-Stil (chin. 吳氏 wúshì) nach Wu Quanyou (chin. 吳全佑 / 吴全佑 Wú Quányòu, W.-G. Wu Ch’uan-yu, 1834–1902) und seinem Sohn Wu Jianquan (chin. 吳鑑泉 / 吴鉴泉 Wú Jiànquán, W.-G. Wu Chien-ch’üan, 1870–1942)
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Sun-Stil (chin. 孫氏) nach Sun Lutang (chin. 孫祿堂 Sūn Lùtáng, W.-G. Sun Lu-t’ang, 1861–1932)
Zu beachten ist, dass das „Wu“ in „Wu Yuxiang“ ein anderes Schriftzeichen ist als in „Wu Jianquan“ – es handelt sich also um verschiedene Familien. Da das Taijiquan mittlerweile nicht mehr nur im Kreis der Familie weitergegeben wird, kann man heute nicht mehr aus dem Namen eines Meisters auf seinen Stil zurückschließen.





